Sie waren auf dem Weg zu einer Safari in Kenia. Familie Vaidya, drei Generationen, angereist aus dem kanadischen Brampton. Zwei Kinder, ihre Eltern und Großeltern, zwischen 13 und 73 Jahren alt, starben beim Absturz einer Boeing 737 Max 8 in Äthiopien. Viele Angehörige der insgesamt 157 Toten kämpfen inzwischen nicht nur mit ihrer Trauer, sondern auch gegen den US-Flugzeugbauer, dem sie große Versäumnisse vorwerfen.
Die Klagewelle gegen Boeing rollt in diesen Tagen an. Seit dem Unglück vor drei Wochen werben US-Kanzleien unter den Angehörigen um Mandanten. Hätte Boeing nicht „unglaublich versagt“, wären die Abstürze der baugleichen Maschinen in Äthiopien und zuvor in Indonesien nicht passiert, behauptet Reed Kathrein von Hagens Berman in Seattle, wo Boeings größte Fabrik steht. Die Großkanzlei hatte während der Dieselaffäre auch Volkswagen zugesetzt.
Der erste Rechtsstreit zum Absturz in Äthiopien wurde am Donnerstag in Chicago eröffnet, wo Boeings Zentrale liegt. Die Angehörigen eines bei dem Unglück getöteten UN-Mitarbeiters werfen Hersteller Boeing vor, dass die 737 Max 8 fehlerhaft entwickelt worden sei und der Flugzeugbauer die Schulung der Piloten vernachlässigt habe. Ähnlich lauten die Vorwürfe, die Angehörigen der in Indonesien getöteten Passagiere zuvor vor Gerichten eingereicht haben. Boeing weist die Anschuldigungen zurück.
Steuerungssoftware unter Verdacht
Sammelklagen sind in den USA nach Unglücken üblich. Im äthiopischen Fall sind sie für Boeing aber besonders brenzlig, weil es um die Frage geht, warum der Hersteller nach dem ersten 737-Max-Absturz in Indonesien nicht anders reagierte. Denn bereits damals stand die neue Steuerungssoftware MCASunter Verdacht.
Die Frage bringt auch die zuständige US-Luftfahrtbehörde FAA in Bedrängnis. „Boeing und FAA wussten von den Gefahren und sie haben kein Startverbot verhängt“, kritisierte Anwalt Steven Marks, der die Klage in Chicago eingereicht hatte. Sollten Gerichte dieser Ansicht folgen, bekäme der Fall juristisch eine völlig andere Dimension. Dann könnte es nicht nur hunderte Millionen an Schadensersatz gehen, sondern auch um zusätzliche Strafzahlungen in Milliardenhöhe.
Die Bundespolizei FBI und das US-Justizministerium untersuchen US-Medien zufolge auch, ob Boeing bei der Zulassung des Flugzeugs womöglich Informationen über die Komplexität der Steuerungssoftware unterschlagen hat und ob die traditionell enge Zusammenarbeit mit der FAA vielleicht allzu eng war – und die Behörden noch viel genauer hätten hinschauen müssen. Darum geht es inzwischen auch diesseits des Atlantiks.
5000 Bestellungen in den Büchern
Am Freitag wurde bekannt, dass auch die europäischen Flugsicherheitsbehörden schon länger wussten, wie komplex die Bedienung der neuen Steuerungssoftware für Piloten ist. „Die europäische Aufsicht EASA zertifizierte das Flugzeug auf der Basis, dass zusätzliche Prozesse und Trainings die Piloten darüber aufklärten“, berichtete Reuters. Demnach hätten die Piloten die Möglichkeit, mit einem manuellen „Trimmrad“ das Flugzeug neu auszurichten. Das war bei den Abstürzen aber nicht gelungen.
Bei der abgestürzten Lion-Air-Maschine in Indonesien gehen die Ermittler bereits davon aus, dass das automatische Kontrollsystem MCAS die Nase des Flugzeugs immer wieder nach unten drückte, weil ein Sensor fehlerhafte Daten über die Lage übermittelte. Die Piloten versuchten gegenzusteuern – vergeblich. In den von Boeing an Lion Air übergebenen Trainingsunterlagen sei nicht erklärt worden, wie Piloten das Trimmrad bedienen könnten, so ein Insider zu Reuters. Am Freitag wurde bekannt, dass sich auch beim Absturz in Äthiopien laut AFP-Information die Hinweise auf MCAS als Ursache für das Unglück mehren.
Um wieder eine Starterlaubnis für die 370 aktuell stillgelegten 737 Max zu bekommen, überarbeitet Boeing gerade die Software, die dann von den Behörden neu genehmigt werden muss. Davon hängt nun die Zukunft der Baureihe ab. Es ist die wichtigste des Konzerns. 5000 Bestellungen zu offiziellen Stückpreisen ab 100 Millionen Dollar hatte Boeing vor den Unglücken in den Büchern stehen.
Die Fluglinien warten
Die neuen, sparsameren Max-Maschinen, mit denen Boeing auf die A320neo von Airbus reagierte, sollten eigentlich die lange Erfolgsgeschichte der 737 fortschreiben, die bereits in den 1960er Jahren begann. Die Modellreihe ist der am meisten gebaute Flugzeugtyp überhaupt. Aktuell stornieren Airlines aber Aufträge. Garuda Indonesia etwa verzichtet auf die Auslieferung von 49 Maschinen im Wert von knapp fünf Milliarden Dollar. Aber das sind bislang Ausnahmen.
Geht es nach Airline-Investor Warren Buffett, bleibt es eine Momentaufnahme. Der Milliardär und drittreichste Mensch der Welt ist an allen vier großen US-Fluglinien beteiligt: Delta, United, Southwest und American Airlines. „Boeing hat offensichtlich viel Arbeit vor sich“, sagte Buffett dem US-Sender CNBC. Das ändere aber nichts daran, dass die Luftfahrt insgesamt sicher sei. Buffetts Botschaft: Boeing wird sich wieder berappeln, so wie nach den anfänglichen Problemen mit der 787 Dreamliner, die innerhalb von drei Monaten behoben wurden.
Viele Fluglinien hoffen darauf, dass die 737 Max bald wieder starten darf – auch, damit sich Airbus und Boeing weiterhin einen Preiskampf in dem Segment liefern. Lufthansa-Chef Carsten Spohr war deshalb wohl nicht nur höflich gegenüber seinen Gastgebern, als er bei einem Besuch in New York Boeing beiseite sprang.
Boeing habe über die Jahrzehnte „wundervolle“ Flugzeuge gebaut und auch nach den zwei Abstürzten sein Vertrauen „nicht verloren“, sagte Spohr. Die Sicherheitsprobleme bekämen die Amerikaner sicher schnell in den Griff, so der Tenor. Boeings geschwächte Verhandlungsposition könnte sich schon bald auch in großzügigen Rabatten für die Deutschen niederschlagen: Lufthansa will nächstes Jahr gleich eine ganze Flotte mit mehr als 100 neuen Flugzeugen in Auftrag geben.